Politikwechsel statt Wahlkampfshow - Eine andere Welt ist möglich!

Am 14. September in Köln

Was tun nach der Wahl und angesichts von Privatisierung und Gesundheitsindustrie

Rolf Rosenbrock



Rede von der Gesundheit

Wer in Deutschland das Pech hat, mit seiner Ausbildung und seinem Einkommen zum untersten Fünftel der Bevölkerung zu gehören, hat auch gesundheitlich schlechte Karten: Menschen aus dem untersten Fünftel tragen über ihr ganzes Leben hinweg, von der Wiege bis zur Bahre, ein ungefähr doppelt so hohes Risiko, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben wie Menschen aus dem obersten Fünftel. Diese besser Gestellten leben im Durchschnitt nicht nur etliche Jahre mehr behinderungsfrei, sondern sie leben auch länger, in Deutschland ca. fünf bis sieben Jahre.

Dieser Zusammenhang gilt weltweit, er gilt global, national, regional und in allen Lebensbereichen. Die Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen ist deshalb die zentrale Herausforderung jeder Gesundheitspolitik, die diesen Namen verdient. Was die Krankenversorgung angeht, steht Deutschland in dieser Hinsicht nicht schlecht da: die Gesetzliche Krankenversicherung funktioniert bei uns nach dem Solidarprinzip: Beiträge werden nicht nach dem je individuellen Erkrankungsrisiko, sondern nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erhoben, als Prozentsatz vom Bruttoeinkommen. Im Grundsatz hat in Deutschland damit jeder Mensch mit einem Gesundheitsproblem unabhängig vom Geldbeutel und vom sozialen Status Anspruch auf und Zugang zu einer vollwertigen und vollständigen medizinischen Versorgung. Das ist ein hohes gesellschaftliches Gut, das es zu verteidigen gilt.

Tatsächlich aber steht das System unter Dauerbeschuss, von verschiedenen Seiten: Marktradikale Kräfte, gesponsort z.B. von der Privaten Krankenversicherung, der Pharmaindustrie und von Ärzteverbänden und unterstützt von neoliberalen Fahnenschwenkern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, schlagen vor, den Solidarausgleich aus der Krankenversicherung zu entfernen. Davon erhoffen sie sich bessere Geschäfte mit Versicherungspolicen, überteuerten Medikamenten und privaten Honoraren. Vorsätzlich nehmen sie damit offene Zwei-Klassenmedizin in Kauf, also Verhältnisse, unter denen im Krankheitsfall je nach Geldbeutel mehr gelitten oder auch früher gestorben wird.

Der Grund dafür ist einfach: Die soziale Krankenversicherung – das ist ein Jahresumsatz von ca. 140 Mrd. Euro, die nicht über den privaten Kapitalmarkt laufen. Das ist schon mal eine Provokation in einem Land, in welchem viel Kapital nach risikoarmer Anlage sucht. Nachdem bei der Rente der Einstieg in die Privatisierung so elegant gelungen ist, steht die Krankenversicherung ganz oben auf der Agenda. Nicht viel weniger gefährlich sind jene selbsternannten Reformer des Systems, die die soziale Krankenversicherung mit mehr Wettbewerb und Marktelementen weiter entwickeln wollen. Gerade zu Wahlzeiten schwillt das Gerede von Wahlleistungen, Selbstbeteiligung, Selbstbehalttarifen, Leistungsausgrenzung und Rationierung getöseartig an. Dahinter steht letztlich immer dies: dass die sozial und gesundheitlich schlechter Gestellten für ihre Gesundheit mehr bezahlen sollen oder aber eben schlechter behandelt werden. Verziert wird dieses simple Strickmuster gerne mit dem Schlagwort Selbstverantwortung, mit dem den Schwachen weis gemacht werden soll, dass sie selbst schuld sind an ihrem Unglück und deshalb auch selbst zahlen sollen. Das aber ist der sicherste Weg, Ungleichheit auf allen Ebenen zu vergrößern und echte Selbstverantwortlichkeit zu verhüten.

Derzeit konkurrieren die Krankenkassen nicht um bessere Versorgung oder mehr gesundheitliche Chancengleichheit. Aufgrund falsch gesetzter staatlicher Anreize konkurrieren sie um ‚gute Risiken’, also v.a. um junge, gut gebildete und sicher beschäftigte Versicherte. Wenn es politisch wirklich gewollt wäre, ließe sich dies zügig und nachhaltig ändern. Das Instrument dafür trägt einen bürokratischen Monsternamen: morbiditätsausgleichender Risikostrukturausgleich – ist aber trotzdem notwendig. Solange wir so etwas nicht haben, gibt es zwischen Krankenkassen auf der einen und Ärzten, Krankenhäusern etc. auf der anderen Seite ein gemeinsames Interesse daran, Versicherte aus den etwas besseren Kreisen, also Menschen mit geringerem Krankheitsrisiko und deshalb auch mit geringeren Kosten, zu bevorzugen und chronisch Kranke – und das sind im Durchschnitt auch ärmere Versicherte – zu benachteiligen.

Auch dieser eher verdeckte Einzug der Zweiklassenmedizin ist weder notwendig noch zweckmäßig, es handelt sich um den weder sachlich noch sozial begründbaren Kotau vor der Dogmenwelt des Neoliberalismus und seinen zentralen Postulaten der Konkurrenz und der Deregulierung. Dabei bietet des Gesundheitswesen reiches Anschauungsmaterial für die Tatsache, dass Deregulierung in aller Regel zur Benachteiligung der Schwächeren und zugleich zu einem Mehr an Bürokratie führt. Aber was helfen Fakten schon gegen Ideologien... Begründet werden die als Reformen getarnten Angriffe auf die erhaltenswerte Kernsubstanz der sozialen Krankenversicherung meist mit der These der Kostenexplosion, die das System angeblich unfinanzierbar macht. Aber diese Karte ist gezinkt: Ein nüchterner Blick auf die Zahlen verrät etwas ganz anderes: Die Kosten für die Krankenversorgung steigen seit über 20 Jahren ziemlich genau so schnell und so langsam wie das Bruttoinlandsprodukt. Der Anteil der Ausgaben der Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt liegt seit 1980 konstant bei ca. 6 %, lediglich die deutsche Vereinigung führte zu einem leichten Anstieg. Da explodiert also gar nichts, und schon gar nicht seit 20 Jahren. Was steigt, sind die Beitragssätze. Die Beitragssätze aber sind v.a. deshalb gestiegen, weil die Einkommen aus abhängiger Arbeit hinter den Profiten des Kapitals zurückbleiben und die Arbeitslosigkeit steigt, die Lohnquote also gesunken ist; weil also beständig eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Wäre die Lohnquote heute so hoch wie 1980, hätten wir heute auch die gleichen Beitragssätze vie damals, also ca. 12,5% und nicht – wie heute - 14%. Die soziale Krankenversicherung ist also durchaus kein Auslaufmodell, sondern sie kann – entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt – die Krankenversorgung für die gesamte Bevölkerung dauerhaft, nachhaltig und solidarisch finanzieren und steuern. Neben der solidarischen Finanzierung kommt ihr dabei die Aufgabe zu, die ganz überwiegend auf Einkommens- bzw. Gewinnmaximierung orientierten Träger der Krankenversorgung, also Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie, Pflegedienste etc. durch Verträge und Anreize dazu zu bringen, das und nur das zu tun, was gesundheitlich und medizinisch vernünftig, zweckmäßig und wirksam ist, und das mit hoher Qualität. Da ist viel zu tun: denn gegenwärtig findet dort in gigantischem Umfang und gleichzeitig sowohl Überversorgung wie auch Unterversorgung als auch Fehlversorgung statt. In keinem Land der Erde haben Marktmodelle Wesentliches zur Bewältigung dieser Probleme beigetragen, im Gegenteil. Eine vom Anreiz zur Jagd auf gute Risiken befreite soziale Krankenversicherung hingegen kann hier viel erreichen.

Eine für alle gleichermaßen zugängliche bedarfsgerechte und wirtschaftliche Versorgung ist aber nur die eine Hälfte der Gesundheitspolitik, wie wir sie brauchen. Schließlich hat die Medizin lediglich zu knapp einem Drittel zu der Verlängerung des Lebens und der Verbesserung der Gesundheit in den letzten Jahrzehnten beigetragen.

Ungefähr genauso viel wäre wohl durch Krankheitsverhütung, also durch nicht-medizinische Prävention zu holen. Dazu müssten nur all die Kenntnisse und Erfahrungen umgesetzt werden, die wir auf diesem Gebiet gesammelt haben, z.B. in der in Deutschland unerhört erfolgreichen Aids-Kampagne der 80er und 90er Jahre. Zu lernen wäre auch aus den zahlreichen Beispielen aus Betrieben, Schulen, Krankenhäusern und Stadtteilen, in denen bewiesen wurde, dass individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit, Partizipation, Transparenz sowie funktionierende soziale Netzwerke Krankheit wirksam verhüten, und dass diese Ressourcen auch erfolgreich gefördert werden können. Aber mit solche Kampagnen ist nicht viel Geld zu verdienen, oftmals schränken sie sogar die Geschäftsmöglichkeiten ein, z.B. bei der Tabakindustrie oder der Ernährungsindustrie. Gesundheitskampagnen sprechen nicht die Sprache der Marktwirtschaft, weil sie sich eben nicht an individuelle Kaufkraft richten. Deshalb brauchen sie politische Unterstützung.

Absichtserklärungen und Deklarationen zur Prävention haben wird genug, und zwar von allen politischen Seiten. Was fehlt, sind Taten, auch gegen die Interessen mächtiger Branchen und großer Konzerne.

Der größte und wichtigste Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung schließlich kommt aus Politikbereichen, die vorgeblich nichts mit Gesundheitspolitik zu tun haben. Da geht es um Bildung, Zugang zu und Verteilung von bezahlter Arbeit, um Einkommen und die Qualität sozialer Infrastruktur. Seit vielen Jahren öffnet sich in Deutschland die Schere bei der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Bildungschancen, offene und verdeckte Armut breitet sich aus. Jede Wirtschaftspolitik, die diesen Trend wendet, ist zugleich auch gute und wahrscheinlich die wirksamste Gesundheitspolitik. Auch dies gilt global, national und regional.

Ich beschäftige mich seit mehr als 25 Jahren wissenschaftlich und politisch mit Gesundheit, Gesundheitspolitik und Krankenversorgung. In der Summe bin ich mir in drei Punkten ziemlich sicher:

1. Es ist prinzipiell möglich, auch in der kapitalistischen Marktwirtschaft eine Gesundheitspolitik zu betreiben, die diesen Namen verdient, die also die Gesundheit der Bevölkerung erhalten und verbessern kann. Aber die dazu notwendigen Regelungen müssen fast immer gegen marktwirtschaftliche Gewinninteressen, und damit gegen den neoliberalen mainstream durchgesetzt werden. Ein funktionierendes Gesundheitswesen ist deshalb in der kapitalistischen Marktwirtschaft wie eine Bastion, die gegen beständig anstürmende Begehrlichkeiten von außen und meist kommerziell angetriebene Erosionsprozesse aus dem Innern verteidigt werden muss.

2. Eine Marktwirtschaft, die es zulässt, dass der gesellschaftliche Umgang mit Gesundheit und Krankheit nach den Gesetzen von Angebot und kaufkräftiger Nachfrage geregelt wird, untergräbt ihre eigenen Funktionsvoraussetzungen und Zivilisationsstandards.

3. Für die Gesundheitspolitik ist es nicht egal, wer regiert. Aber auch Regierungen, die vor der Wahl verkünden, den solidarischen Gehalt der Gesundheitspolitik erhalten zu wollen, brauchen öffentlichen und nachhaltigen Druck sozialer Bewegungen, um dem Sog der Privatisierung zu widerstehen. Gesundheit ist ein politisches Gut und muss immer wieder mit den Mitteln der Politik erkämpft werden.

Der Autor: Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Jg. 1945, Wirtschafts-und Sozialwissenschaftler, leitet im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die Arbeitsgruppe Public Health; ist Mitglied im Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR KAiG), des Vorstands im Berliner Zentrum Public Health (BZPH), stv. Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) etc.